biblio: Lesen

Reinhold.Ritt reinhold.ritt at eb.salzburg.at
Mi Jul 3 15:57:16 CEST 2002


Liebe Martina!

Danke für Hinweis auf Thomas ANZ; hier ein Interview mit ihm; kannst Du den
Artikel kopieren ? - das Juni Heft war am Kiosk nicht mehr erhältlich
Liebe Grüße
Reinhold

Thomas Anz
Literatur und Lust
von Lutz Hagestedt

Glück und Unglück beim Lesen - C.H. Beck, München, 1998, 288 Seiten, 38 Mark


 Hagestedt : Ist Lust etwas, das vom Text ausgehen muß, oder etwas, das an
den Text herangetragen werden muß?

Anz: Beides! Es gibt natürlich Texte, die dazu geeigneter sind, eine
lustvolle Lektüre zu fördern, und es gibt Texte, die dazu weniger geeignet
sind. Es gibt aber auch unterschiedliche Arten, Texte zu lesen, lustvoller
zu lesen und weniger lustvoll zu lesen. Das Ideale ist, wenn ein Text, der
so beschaffen ist, daß er Lust erregen kann, auch den richtigen Leser
findet, der es versteht, lustvoll zu lesen.


Hagestedt: Kann man dieses Buch als Anleitung verstehen, lustvoll zu lesen
und lustvoll zu schreiben?


Anz: Wenn man das kann - ich möchte das nicht entscheiden - dann würde ich
mich natürlich darüber freuen. Ich habe mich bemüht, im Rahmen des Möglichen
auch so zu schreiben, daß dieses Buch lustvoll gelesen werden kann. Es geht
mir allerdings vor allem um eines, nämlich um den Versuch, zu erklären,
warum man aus ganz verschiedenen Gründen beim Lesen von Literatur Lust haben
kann. Die Gründe dafür sind wirklich sehr unterschiedlich: Es gibt eine Lust
am Traurigen wie am Fröhlichen, eine Lust am Grauen wie am Schönen. Und
diese ganze Palette von heterogenen Lüsten mal zu durchleuchten, genauer,
nicht nur allgemein von der Leselust zu sprechen, sondern ihr auf den Grund
zu gehen, das war das Anliegen meiner Arbeit.

Hagestedt: Auch die spröde auftretende Germanistik entwickelt bisweilen ihre
eigene Lust an analytischer Kompetenz. Sie ironisieren das ein bißchen.

Anz: Ja, ich habe in diesem Buch von der lustlosen Literaturwissenschaft
gesprochen. Das darf nicht mißverstanden werden. Die Literaturwissenschaft
ist insofern lustlos, als sie nicht genauer danach fragt, woran die Lust am
Lesen besteht. Das heißt aber nicht, daß Literaturwissenschaftler, wenn sie
Texte analysieren und interpretieren, dabei nicht einen hohen Grad an
Lustbefriedigung haben könnten. Zum Beispiel Strukturalisten, deren Geschäft
oft sehr trocken und rationalistisch aussieht, üben eine Tätigkeit aus, die
hochgradig lustvoll sein kann. Lustvoll kann dabei das Entdecken von
Zusammenhängen sein, das Entdecken von Beziehungen zwischen Textteilen zu
anderen Textteilen. Das hat manchmal den Lustcharakter eines
Kreuzworträtsel-Spiels, das hat auch den Lustcharakter, den ein Mathematiker
haben kann, wenn er etwas entdeckt und auf eine einfache Formel bringt. Und
was da psychisch in uns vorgeht, wenn wir so etwas machen, auch das habe ich
versucht, in diesem Buch darzustellen.

Hagestedt: Spannung, so eine These in Ihrem Buch, werde in der modernen
Literatur über das Textende hinaus verlängert - strapaziert, könnte man
sagen. Es entsteht eine Art lustvoller Spannungsschmerz. Was ist die Ursache
für diese Entwicklung?

Anz: Lange Zeit hat man das Wohlgefallen an Literatur, die Lust auch an
Literatur, mit dem Schönen gleichgesetzt. Mit Harmonie, Ordnung und solchen
Vorstellungen und Erlebnisweisen. In der modernen Literatur ist das häufig
suspekt geworden. Man entdeckt hier, daß auch Disharmonien, Dissonanzen,
Diskrepanzen, Widersprüche etwas Lustvolles sein können. Lustvoll deshalb,
weil sie energiefördernd sein können - sie sind weniger beruhigend als
erregend. Und dieses Lustpotential hat die Moderne in der Musik, in der
Kunst und in der Literatur für sich entdeckt. Die völlige Ruhe, die völlige
Harmonie ist letztendlich nur im Tod zu haben, während Spannungen,
Widersprüche zum Leben gehören. Diese Lebendigkeit in uns zu stimulieren,
das ist vielfach ein Anliegen der Moderne.

Hagestedt: Inwieweit können in diesem Sinne Schmerz und Angst lustvoll sein?

Anz: Schmerz und Angst haben, so leidvoll sie häufig empfunden werden, doch
große Vorzüge, nämlich unsere Gefühle überhaupt in Bewegung zu bringen.
Nichts ist erregender als Angst, als ein großer Schmerz. Kafka hat einmal
davon gesprochen, daß Literatur der Axthieb in das gefrorene Meer in uns
sein muß. Dieses Erregungspotential von Angst und Schmerz nutzt Literatur
regelmäßig aus, und sie kann das deshalb, weil wir beim Lesen auch eine
gewisse Distanz dazu immer noch haben zu dieser Lust und dem Schmerz. Wir
empfinden ihn einerseits mit, den Schmerz von Figuren, wir haben Angst mit
ihnen, andererseits genießen wir auch die Distanz, die wir als Leser dazu
haben, so wie wir sie auch im Fernsehsessel genießen oder im Kino.


Hagestedt: Zusammenfassend könnte man sagen, daß eine bestimmte Dynamik
Texte lustvoll macht.

Anz: Ja, das ist die Dynamik von Lust und Unlust. Es gibt einen berühmten
Ausspruch von Freud, der lautet: "Nur der Unglückliche phantasiert". Nur der
Unglückliche entwickelt den starken Wunsch nach Phantasien, die ihn
glücklicher machen. Wenn nun aber wir Leser nicht unbedingt unglücklich
sind, dann hat Literatur die Möglichkeit und auch die Aufgabe, uns
unglücklich zu machen, um gleichzeitig auch die Möglichkeit bereitzustellen,
dieses Unglück, das wir durch Literatur erleben, auch wieder aufzuheben. Das
geschieht etwa im Märchen, im Happy End, nachdem die Figuren böseste
Erfahrungen gemacht haben. Kurzum, die Literatur läßt ihre Leser leiden, um
dann in der Aufhebung des Leidens den Wechsel zum Glück genießbar zu machen.





-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Martina Lainer <martina.lainer at biblio.at>
An: <biblio-forum at horus.at>
Gesendet: Mittwoch, 3. Juli 2002 13:47
Betreff: biblio: Lesen


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> Liebes Forum,
> die Zeitschrift "Psychologie heute" (übrigens eine für den
> Bibliotheksbestand empfehlenswerte populärwissenschaftliche
> Zeitschrift) vom Juni 2002 befasst sich in einem Artikel von Thomas
> Anz (Autor von Büchern wie "Lust am Lesen" oder "Literatur und
> Lust") mit dem Thema Lesen. Wie seine Buchtitel schon erahnen
> lassen, greift er das Thema von der lustbetonten Seite auf. Als ich
> mich mit dem Projekt "Lesen im Alter" beschäftigte, stieß ich auf die
> Flow-Theorie von Mihaly Csikszentmihalyi ("Flow, das Geheimnis des
> Glücks", Klett-Cotta) und entdecke ihn nun hier wieder. Das
> Flowerleben ist dargestellt als intensives Beisichsein und doch über
> sich Hinausgehen, das Anstrengung voraussetzt, dann aber in ein
> absolutes Glücksgefühl übergeht. Lesen, so der Glücksforscher aus
> Cicago, ist die "am meisten erwählte Flow-Tätigkeit der Welt." In
> diesen Zusammenhang passen auch die Überlegungen von Verena
> Kast über die Langeweile ("Vom Interesse und dem Sinn der
> Langeweile", Walterverlag).
> Allen, die gute Argumente für das lustvolle Lesen brauchen, sei
> dieser Artikel sowie die erwähnten Bücher wärmstens ans Herz
> gelegt.
> Da Sommerzeit für viele Menschen auch Lesezeit bedeutet, wünsche
> ich allen einen an Lektüre reichen Urlaub.
> Liebe Grüße
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